Hallo du.
2022 steht an und ich begleite das Gäst_innenhaus jetzt ein gutes halbes Jahr. Hergeführt hatte mich die Suche nach einem zukunftsfähigen Gartenprojekt und einem Modell wie ich persönlich ganzheitlich Aktivismus für die sozial-ökologische Veränderung unserer und aller Gesellschaften betreiben kann.
Und ich bin wirklich froh, jetzt noch ein Zuhause mehr zu haben, wo ich aufschlagen kann, wenn mir danach ist und wo ich mich immer einbringen kann oder schöne Menschen mir helfen, wenn es mir nicht gutgeht.
„Leider“ führt mich meine Ausbildung zur Gemüsegärtner*in als nächstes ab März nach Leipzig, wo mich eine regenerativ ökologische Gärtnerei erwartet, bei der ich die kommende Saison arbeiten werde.
Das bedeutet, dass ich das Projekt, das ich die letzten Monate unterstützt habe, „zurücklasse“.
Damit meine ich:
- die tollen engagierten Menschen im und um das Gäst*innenhaus, wo ich an jeder*m einzelnen irgendetwas unheimlich schätze oder bewundere,
- unseren bewussten und sensiblen Umgang miteinander und mit Konflikten,
- die unzähligen Lernmöglichkeiten in Bezug auf Organisation von Bildungs- und politischen Veranstaltungen oder Renovierungsarbeiten am Haus,
- eine Umwelt, in der mir mein Perfektionismus und meine hohen Erwartungen an mich selbst so stark wie nirgends vorher im Weg standen und mich in Krisen geschoben haben, aus denen ich mich dann mit viel Erholung, Gesprächen und Hinterfragen meines Weltverbesserungsdrangs wieder heraus arbeiten konnte,
- die wiederkehrende Herausforderung, unser Zusammenleben so zu gestalten, dass Ankommende sich willkommen und sicher aufgehoben fühlen und sich gut in unsere anarchistischen Strukturen einbringen können – sei es beim Kochdienst, beim Containern, beim kommunale Wäsche waschen,
- überraschende und bereichernde Begegnungen mit Menschen, die völlig anders aufgewachsen sind oder leben als ich,
- das befreiende Gefühl, auch als weiblich erzogene Person Stimmungen wie Wut oder Lust ausdrücken zu „dürfen“,
- ein perfektes Umfeld zum Anwenden und Verbessern der in meinem Studium eingeübten systemisch-lösungsorientierten Beratungsmethoden,
- meinen Nebenjob am Marburger Biogemüse-Marktstand, bei dem ich merke, wieviel Spaß mir der Kontakt zu den Stammkund*innen macht und dass ich DOCH kopfrechnen kann,
- und nicht zuletzt die schönen Wälder rundherum, auch wenn direkt am Ortsrand die hässliche neue Trasse für das letzte A49-Teilstück den Blick versaut und einfach nur wütend macht und man aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr rauskommt.
Auch wenn ich gemerkt habe, dass es für mich einfach noch nicht infrage kommt, sesshaft zu werden, weiß ich, dass hier ein tolles Projekt dabei ist, Fuß zu fassen. Ich konnte erfahren, dass jetzt viele Engagierte aus der Klimagerechtigkeits- oder anderen Bewegungen hier einen sicheren Ort haben, um sich mental oder körperlich zu erholen. Dass Anwohner*innen aus nahen Dörfern, die die Aktivisti in den Waldbesetzungen intensiv unterstützt und die oft gewaltvollen Räumungen und Fällungen ohnmächtig beobachten mussten, aus diesem neuen Projekt Hoffnung schöpfen und sich weiter einbringen. Ich konnte bemerken, dass das Haus mitsamt der Scheunen und Garten zwar auf dem Land ist, aber dafür idealen Raum für Bildungsveranstaltungen oder praktische Workshops zu politischem Aktivismus oder Zukunftsthemen für eine gerechtere Welt bietet und bieten wird. Dass die Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt hierher verlegt haben, um dauerhaft den Raum bereit- und offenzuhalten, gemeinsam schon so viel Verbindendes auf die Beine gestellt haben und sich nicht scheuen, dabei auch an ihre persönlichen Grenzen zu stoßen.
Insofern bleibt mir zum Jahreswechsel nur ein riesiges Dankeschön an alle Wesen, die mir all das Lernen, das mit mir selbst konfrontiert sein, die lustigen und bereichernden Momente und das Aufgefangen-Werden innerhalb der letzten sieben Monate ermöglicht haben.
Denn:
Letztendlich ist es für mich genau das, was das Leben ausmacht: Mich in der Welt wahrzunehmen – zu sehen, mit welchen Privilegien und Grenzen ich mich im Vergleich zu anderen Lebewesen darin bewege. Zu spüren, was für Gefühle dabei tief in mir selbst entstehen. Auszuprobieren, wie ich Einfluss nehmen kann ohne meine eigenen Überzeugungen dabei zu verraten, und solidarisch mit Anderen zu handeln, wann immer ich die Möglichkeit dazu habe.
Hui, ganz schön aufgeladen. Aber so ist das bei mir. Und damit bin ich bei aller Schwere und allem Weltschmerz, den das mit sich bringt, tatsächlich ganz schön zufrieden.
Schließlich gibt es so viel Gewalt und Ungerechtigkeit, und unsere Lebensrealitäten sind auf der ganzen Welt inzwischen dank den (historisch gewachsenen oder neuen) globalen Produktions- und Informationswegen so intensiv miteinander vernetzt, dass es fatal wäre zu denken, dass mich das alles nichts angeht.
Und weil es jetzt so viel um mich ging, hier eine Frage für Dich:
Was würdest Du in die Welt hinausschreien, wenn Du mit Deiner Nachricht mit einem Mal alle Menschen erreichen könntest?
Zu guter Letzt noch eine Anregung zu einem halbstündigen Vortrag zur Frage: Wie schaffen wir den Weg aus der Klimakrise, indem wir unseren „Glauben“ an das ewig mögliche Wirtschaftswachstum endlich aufgeben und dabei auch soziale Ungerechtigkeiten angehen?
https://www.youtube.com/watch?v=lX7_zM7MEMg
Alles Liebe für Dich und Deine Lieben in 2022.
winter
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